espero – Libertäre Zeitschrift (Neue Folge), Nr. 11, Juli 2025. | ![]() |
Editorial:
Anfangs waren wir selbst in der Redaktion skeptisch, wie lange wir es schaffen würden, halbjährlich eine neue Ausgabe unserer undogmatisch-libertären Zeitschrift espero als Open-Access-Publikation (d. h. für unsere Leser:innen kostenlos) herauszubringen. Doch inzwischen erscheint espero seit fünf Jahren regelmäßig in einer Sommer- und Winterausgabe – und wir freuen uns nicht nur über eine stetig wachsende Zahl engagierter Leser:innen, sondern auch über die Vergrößerung unseres Redaktionsteams. Wir möchten Lena, Leon und Lisa herzlich an Bord der espero begrüßen, die das Projekt seit einigen Monaten unterstützen und an dieser Ausgabe mitgewirkt haben.
Aber in Zeiten wie diesen gibt es keine ungetrübte Freude. Wohin wir auch schauen: Krisen überall – Kriege in Gaza, der Ukraine, im Sudan; reaktionäre Kräfte und autoritäre Regime auf dem Vormarsch; wachsende soziale Ungleichheit; die Klimakatastrophe. Kein Wunder, dass die Menschen wütend werden, verzweifeln und resignieren. Doch diese Gefühle sind gefährlich: Sie öffnen Tür und Tor für reaktionäre Kräfte, für sozialen und politischen Zynismus – und letztlich für den Faschismus.
Es mangelt nicht an kritischen Analysen, die sich aus libertärer Sicht mit den Ursachen dieser Krisen beschäftigen. Aber was jetzt gebraucht wird, sind praktische Gegenentwürfe, die zeigen, dass ein Leben ohne Herrschaft kein fernes Ideal, sondern gelebte Realität sein kann. Eine solche „gelebte Anarchie“ beschreibt Tomás Ibáñez in seinem Gast-Essay über das legendäre Internationale Anarchistische Treffen 1984 in Venedig.
Der Themenschwerpunkt dieser Ausgabe widmet sich dem Verhältnis von Anarchismus und Künstlicher Intelligenz – einem Thema, das angesichts der rasanten technologischen Entwicklung und ihrer gesellschaftlichen Auswirkungen existenzielle Fragen für die Menschheit aufwirft. Jochen Schmück beleuchtet in seinem Beitrag die Wechselbeziehung zwischen natürlicher und Künstlicher Intelligenz. Er zeigt, dass anarchistische Prinzipien wie Dezentralisierung, Selbstorganisation und kollektive Entscheidungsfindung der kritischen KI-Forschung helfen können, ein libertäres Gegenmodell zur KI der Tech-Oligarchen zu entwickeln – ein Modell, in dem die kollektive menschliche Intelligenz und die KI der Maschinen herrschaftsfrei interagieren und sich wechselseitig bereichern.
Catherine Malabou, eine der profiliertesten Stimmen der Gegenwartsphilosophie, unterscheidet zwei Szenarien des Kontrollverlustes durch KI: die dystopische Maschinenherrschaft und eine emanzipatorische Vision – den freiwilligen Verzicht auf individualistische Macht zugunsten einer symbiotischen Beziehung zwischen Mensch und Maschine. Diese Verbindung soll traditionelle Machtstrukturen überwinden und durch Plastizität eine Gesellschaft jenseits von Hierarchie und Herrschaft ermöglichen. Malabou entwirft ein neues Verständnis von ontologischem Anarchismus, der Technik nicht ablehnt, sondern als disruptives Potenzial akzeptiert. Dieser Anarchismus verweigert sich festen Wahrheiten – er entfaltet sich im offenen Denken jenseits festgeschriebener ideologischer Leitlinien.
Der US-amerikanische KI-Forscher William Agnew entwickelt eine radikale KI-Ethik, die anarchistische Prinzipien mit der modernen KI-Technologie verbindet. Ziel ist der Abbau hierarchischer Strukturen und die Dezentralisierung von Kontrolle. KI-Ethik, so seine Forderung, muss zur Speerspitze gesellschaftlicher Selbstbestimmung werden – nicht zum Feigenblatt der Tech-Eliten. Noch weiter in eine erklärt anarchistische Richtung gehen die TechnoAnarchisten: Sie fordern auf, die Künstliche Intelligenz zu hacken, um sie als Open-Source-KI für Selbstorganisation, Commons, Kooperation und nachhaltiges Leben zu nutzen. Die Beiträge des Specials zeigen: Im Schatten der Tech-Konzerne entsteht ein neuer Anarchismus, der darauf abzielt, die KI-Technologie von ihren kapitalistischen Fesseln zu befreien und die Kontrolle über die Algorithmen den Mächtigen zu entwinden, um sie zurück in die Hände der Gesellschaft zu legen.
Weitere Beiträge widmen sich anderen Themen: Fredrik Fuß analysiert das Verhältnis von Anarchismus und Judentum, insbesondere im Umgang mit Antisemitismus und Zionismus. Er zeigt, wie sich Ideale und Abgründe selbst in progressiven Strömungen durchdringen. Die Frage, warum Gesellschaften anfällig für autoritäre Versuchungen bleiben, ist aktueller denn je. Bei eben dieser Frage setzt David Bernardini an, der sich mit den libertären Faschismus-Analysen von Rudolf Rocker und Gerhard Wartenberg beschäftigt. Ihre Analysen liefern Einblicke in die Mechanismen von Populismus und Radikalisierung zur Zeit der Weimarer Republik.
Mit Olaf Brieses Beitrag springen wir zurück ins 19. Jahrhundert – in eine Epoche, in der progressive Köpfe im rheinischen Blätterwald auf die soziale Frage antworteten und dabei die Anarchie entdeckten. Briese beleuchtet den Einfluss von Pierre-Joseph Proudhon auf das liberal-sozialistische Milieu Deutschlands, insbesondere durch die Trier’sche Zeitung, die als erste sozialistische Tageszeitung den „libertären Sozialismus“ bekannt machte. Er zeigt, wie diese Zeitung, entgegen späterer marxistischer Diffamierung, ein pluralistisches Forum für Ideen wie Mutualismus, Selbstorganisation und Tauschbanken bot – Konzepte zur radikalen Neugestaltung jenseits staatlicher Bevormundung.
In einer Zeit, in der das Vertrauen in repräsentative Demokratie schwindet und autokratische Systeme erstarken, stellt Siegbert Wolf mit dem Konzept der „Demarchie“ ein libertäres Alternativmodell vor. Es geht auf den australischen Philosophen John Burnheim zurück und projektiert eine Gesellschaft ohne zentrale staatliche Verwaltung. Entscheidungen werden von Gremien getroffen, deren Mitglieder per Los bestimmt werden, und zwar in repräsentativer Auswahl aus denjenigen, die von diesen Entscheidungen betroffen sind. Burnheims Modell ist ein mutiger Entwurf für Selbstorganisation und soziale Teilhabe.
Angesichts globaler Krisen stellt sich die Frage: Gibt es einen Ausweg? Diese Frage greift der durch seine anarchistische Utopie bolo’bolo bekannte Schweizer Autor P. M. (Hans Widmer) in einem literarischen Beitrag auf – ein imaginäres „sozialtherapeutisches Beratungsgespräch“, in dem er einen Zehnjahresplan zur Transformation unseres Planeten entwirft. Seine Botschaft: Nur ein Bruch mit dem Tauschprinzip und eine solidarische Geben-und-Nehmen-Kultur sichern langfristig unser Überleben.
Zum Abschluss enthält diese Ausgabe wie gewohnt Buchempfehlungen und redaktionelle Mitteilungen. Jochen Schmück und Markus Henning beleuchten in ihren Besprechungen das emanzipatorische Potenzial alternativer politischer und ökologischer Ansätze, während Siegbert Wolf in seiner an die anarchistische Szene gerichteten Rezension zu einem konsequenten und historisch reflektierten Kampf gegen den Antisemitismus aufruft.
Wir wünschen unseren Leser:innen eine anregende Lektüre!
Das espero-Redaktionskollektiv:
Jochen, Knobi, Lena, Leon, Lisa, Markus und Rolf
DER GAST-ESSAY
Tomás Ibáñez: Das Wunder der Einheit in der Vielfalt. Ein kurzer Überblick über den Anarchismus vor, während und nach Venedig ’84 [11]
Jochen Schmück: Wenn Anarchie auf Algorithmen trifft – Libertäre Reflexionen über die natürliche und Künstliche Intelligenz [23]
- Prolog [23]
- 1. Zwischen Neuronen und Algorithmen: Wie sich die natürliche von der Künstlichen Intelligenz unterscheidet [28]
- 2. Denken ohne Ketten: Die Rolle der Intelligenz im klassischen Anarchismus [33]
- EXKURS: Wie William Grey Walter mit seinen Roboter-Schildkröten das anarcho-kybernetische Konzept der kollektiven Intelligenz ohne Herrschaft entdeckte [43]
- 3. Wie betrachten heutige Libertäre die Künstliche Intelligenz? [55]
- Epilog [77]
- Literatur und andere Quellen [83]
Catherine Malabou: Künstlicher Anarchismus: Eine Antwort auf die Künstliche Intelligenz [89]
- Literatur [103]
William Agnew: Was kann die KI-Ethik vom Anarchismus lernen? [105]
- Ein Aufruf zum Handeln [106]
- Die Anwendung anarchistischer Prinzipien auf die Künstliche Intelligenz [108
- Literatur [116]
TechnoAnarchists: Künstliche Intelligenz: Ein Katalysator für die Dezentralisierung [119]
BEITRÄGE ZU WEITEREN THEMEN [125]
Frederik Fuß: Von Wahlverwandtschaften und Trennungen. Über Anarchismus, Judentum und Antisemitismus [127]
- Anarchistische Anfänge [128]
- Religiöse Implikationen im Anarchismus [132]
- Jüdisch-anarchistische Bewegung [136]
- Anarchistische Positionen zum Zionismus [139]
- Anarchistische Revisionen und Generationenkonflikt [147]
- Der gegenwärtige Anarchismus [152]
- Literaturverzeichnis [161]
David Bernardini: Antifaschistischer Anarchismus in der Weimarer Republik. Rudolf Rockers und Gerhard Wartenbergs Erklärungsversuche für den Aufstieg des Nationalsozialismus [169]
- Anarchismus in der ersten deutschen Demokratie: einige Fragmente [170]
- Der Anarchismus und der Aufstieg der radikalen Rechten in der Weimarer Republik [173]
- Rudolf Rocker: Der Nationalsozialismus als Konsequenz eines langen Weges [177]
- Gerhard Wartenberg: Die „kapitalistisch-reaktionäre“ Dimension des Nationalsozialismus [182]
- Schlusswort [186]
- Literaturverzeichnis [189]
Olaf Briese: Zur Proudhon-Rezeption in den deutschen Staaten. Die Trier’sche Zeitung 1843-1851 [197]
- Grün – Proudhon – Marx [198]
- Die Trier’sche Zeitung: Contra Marx, pro Proudhon [202]
- Vier Rezeptionsphasen bezüglich Proudhon [211]
- Exkurs: Eine antisemitische Entgleisung Grüns [228]
- Ausblick zum Thema Zeitungsforschung [231]
- Literaturverzeichnis [233]
Siegbert Wolf: John Burnheims „Demarchie“ – Ein libertäres Gegenmodell zu staatszentrierter Herrschaftsordnung [239]
- Literatur [254]
P. M.: Sozialtherapeutische Beratung, erste Sitzung [257]
BUCHEMPFEHLUNGEN [271]
- Jochen Schmück: Da sind ja Löcher im Status quo! [272]
- Markus Henning: Von der Herrschaftskritik zur Beziehungsfülle [277]
- Siegbert Wolf: Anarchismus und Antisemitismus [283]
- Betrifft: Anarchismus – der „Klassiker“ des Neuen Anarchismus – jetzt zum kostenlosen Download! [288]
MITTEILUNGEN [291]
- Call for Paper für das Themenspecial in espero #13: „Die Klimakatastrophe aus libertärer Perspektive“ [292]
- Transformationstagung in Wien vom 3. bis 5. Oktober 2025. Ankündigung und Programm [295]
ANHANG
Die Autor:innen dieser Ausgabe [302]
Diesen Artikel haben wir am 21.06.2025 in unseren Katalog aufgenommen.